„Von hieraus und so weiter“

oder

 Mona Lisa hat den Highway-Blues

 

Ja, ich weiß: Es ist leichter, sich abzukapseln, als Kontakt aufzunehmen. Ein großes Halleluja an alle, die miteinander verbunden sind, das ist  schön. Ich kann das nicht. Jedenfalls nicht ständig.

Lange her, seit ich dir das letzte Mal schrieb. Verdammt lang!

Nicht viel passiert seitdem. Tage kamen und gingen. Sie hatten keine Bedeutung, außer dass Zeit verbraucht wurde. Die Welt ohne iPhone fühlte sich an wie ein Standbild, das zwar jederzeit weiterlaufen kann, aber für den Moment, solange ich wachträumend durch deine Gedanken spazierte, bliebst DU meine einzige Verbindung nach außen.

Gib’s zu, DU hattest mich vergessen! Und jetzt tu nicht so, als hättest DU noch nie von mir gehört. Es sind Deine Verse, die Dich und mich verbinden. Ich kannte Deinen Namen nicht und werde ihn wohl auch nie erfahren, aber meiner dürfte Dir doch noch bekannt sein, oder etwa nicht? Nein? Dann werde ich mal Deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen. Darf ich mich nochmals vorstellen?

Ich bin's, Johanna - Deine Antwort. 

Dein Gegenentwurf. Schon vergessen? Dir ging’s nicht so gut damals. Dir ging's sogar richtig mies. Aber nicht nur dir, auch Deinen komischen Freunden. Ich erinnere mich an jeden von Euch. Einige habe ich im Lauf der letzten Jahre immer mal wieder getroffen. Louise zum Beispiel ist mir öfters begegnet. 

Ihr Glück hat sie immer noch nicht gefunden, obwohl sie sich in all den Jahren so offenherzig angeboten hat wie einst in diesem Raum mit den hustenden Heizungsrohren. Kontaktfreudige Menschen wie Louise laufen immer Gefahr, mehr Enttäuschungen schlucken zu müssen, als sie eigentlich verkraften können. Irgendwann bringt ein Tropfen das berühmte Fass zum Überlaufen und was sich dann ergießt, ist schiere Verzweiflung. Sie hatte ja immer gern Sex und war da auch nie sonderlich wählerisch. Leider machte sie dabei immer wieder die gleichen Fehler. Eine wilde, abgefahrene Nacht ist noch kein Zeichen für die dauerhafte Erfüllung romantischer Träume. Wir hatten uns angefreundet und sie erzählte  mir von ihren Versuchen mit den Männern. Geschichten, die allesamt vom Scheitern handelten. Mit jeder Niederlage verlor sie etwas mehr von dem Vertrauen, dass am Ende doch noch alles gut wird. Zuerst wandelte sich dieses Vertrauen in Hoffnung, die ja dem Volksmund nach zuletzt stirbt. Aber erfahrungsgemäß tritt der Tod wesentlich früher ein, nämlich wenn aus Hoffnung Angst wird. Zwar suchen Menschen einander, erhoffen sich Hilfe oder Beistand, doch niemand kümmert sich wirklich um den anderen. Alle welken in ihrer Isolation  dahin und am Schluss verweht jeder für sich allein. So war die Welt, in der DU und Deine Freunde lebten.

Zum Glück stand ich draußen; gehörte nicht dazu. Louise sagte zu mir: „Es ist, als gäbe es dich gar nicht, Johanna, als wärest du nur ein Gedanke. Dabei kann ich dich doch anfassen. Dein Fleisch ist warm und manchmal glaube ich sogar, die Fasern deiner Seele berühren zu können. Du bist nah und trotzdem gelingt es mir nie, dich tatsächlich zu erreichen. Ich rufe an, aber da ist nur diese brüchige Stimme am anderen Ende der Leitung: The Person you have called is temporarily not available.“

Tut mir leid. Ich hatte schon immer meine eigenen Vorstellungen. Und die kann ich nicht danach richten, was andere von mir wollen. Manchen Leuten erscheine ich vielleicht zu gekünstelt, unterkühlt sagten einige, etwas entrückt die anderen, jedenfalls irgendwie außerhalb stehend. In gewisser Weise haben sie recht. Ich widerspreche nicht. Warum auch? Einer Realität, in der Menschen das Leben nicht als sinnvoll begreifen, fühle ich mich nicht zugehörig. Ich nehme mich selbst eher als Gebilde wahr, als Spiegel an der Wand des alltäglichen Wahnsinns. Man schaut hinein und das Ebenbild sagt: Es ist doch nicht so schlimm, wie du denkst. 

Aber das Erfinden solcher Gegenwelten findet nur in der Kunst statt, also dort, wo aus dem Vorhandenen etwas Ideales erschaffen wird. Wenn es eines gibt, das dieses Dasein erträglich macht, dann ist es DIE Kunst. Immer dann, wenn uns das Leben Fallen stellt, hilft uns die Kunst, das Schöne, Wahre und Gute zu erkennen, auch wenn sich deren Rätsel niemals vollständig entschlüsseln lassen. 

So ist das zum Beispiel mit dem Lächeln der Mona Lisa. Es kann bedeuten: 

  1. ich werfe dem Bettler eine Münze in den Hut, oder
  2. ich bin auf deiner Seite, oder
  3. ich zünde gleich eine Bombe.

Vielleicht noch vieles mehr. Mona Lisa hilft uns, die Dinge zu begreifen, von denen wir keine letzte Gewissheit haben können. Meistens verbirgt ein Lächeln mehr als es sagt. Wer lächelt, ist jedenfalls weniger angreifbar. Das ist amtlich. Lächeln ist ein Schutzschild, das zweifellos nicht jedem als solches gegeben ist. Der Dumme wird durch ein Lächeln nicht schlauer und umgekehrt auch nicht. Man kann lediglich zwischen  einem Lächeln und einem Grinsen unterscheiden: Letzteres ist meist dumm oder boshaft - schlimmstenfalls beides. Ähnlich verhält es sich mit dem Lachen. Dazu gibt es übrigens so ein Zitat von Goethe, das lautet: „Der sinnliche Mensch lacht oft, wo es nichts zu lachen gibt.“ Da ist echt was dran! Wo er recht hat, hat er recht, der alte Goethe. Es gibt gute Gründe, der ständig guten Laune von Menschen zu misstrauen. Ich erkenne einen bösen Menschen, auch wenn er lacht und ebenso erkenne ich einen liebenswürdigen, wenn er nicht lacht. 

Beim Lächeln der Mona Lisa bin ich mir nicht so sicher. Vielleicht ist sie auch einfach nur traurig. Auch wenn man traurig ist, kann man lächeln. Wer traurig ist, sagt man, „hat den Blues“. Mona Lisa hat, wie DU es einst ausgedrückt hast, den Highway-Blues. 

Was immer das auch ist - der Highway Blues.

Sterndeuter, Kaffeesatzleser und Exegeten. Wer hat nicht alles versucht, diesen Begriff zu deuten? Selbst Professoren können darauf bis heute keine abschließende Antwort geben, sondern allenfalls im Trüben der Vermutung fischen. 

ICH behaupte ja, der Highway Blues ist nichts anderes als die Nachdenklichkeit, die einen bisweilen während einer langen Fahrt auf der Autobahn überkommt.

Man muss da gar nicht mehr hineingeheimnissen. Jeder kennt das: Der Wagen rollt die Autobahn entlang, draußen rauscht die Welt vorbei, man sitzt hinterm Steuer, durch den Innenraum von allem abgetrennt, quasi wie in einer Kapsel, mit sich allein, glaubt, man konzentriert sich auf den Verkehr und plötzlich - aus dem Nichts - wie ein lästiges Insekt, das man nicht so einfach wieder los wird, fliegen sie einen an: Die Gedanken.

Man schlägt um sich, öffnet das Fenster, doch es hilft nichts. Schließlich lässt man sie einfach zu. Man weiß nicht, woher sie kamen, doch plötzlich sind sie alle wieder da: Der vor Zeiten verstorbene Freund, die kranke Mutter, die verpassten Chancen, der Schmerz, als man sich im Gerichtssaal ein letztes Mal die Hand reichte, bevor die Zukunft zur Vergangenheit wurde. Als wäre es gerade erst passiert. Und dann kommen immer mehr. Erinnerungssplitter, die sich vervielfältigen und diese kurzzeitige Ohnmacht gnadenlos ausnutzen: Der vergessene Anruf, weil man nur zweite Wahl war; Ersatzbank - diese Nichtbeachtung, die viel mehr verletzte als jeder abschätzige Blick. Doch am schlimmsten war diese kalte Verachtung in den höhnischen Worten jenes Menschen, von dem man glaubte, dass man ihn liebte. 

All das hebt nicht gerade die Stimmung und lässt einen munter gelaunt, ein Liedchen vor sich her pfeifen. Manchmal verzieht man die Mundwinkel reflexartig aufwärts, um sich zu schützen. Schulterzucken, Kopfschütteln, den wahren Grund der Schwermut niemals verraten. Niemandem! So ist das mit dem Lächeln und dem Highway Blues.

Übrigens: es gibt sowieso mehr Gründe, traurig zu sein als fröhlich. Wer das Gegenteil behauptet, erlebt sein Leben wahrscheinlich als einen ständigen Partyauftritt. Dabei hat doch jede Party ein Ende, bevor wieder eine neue beginnt. In der Zeit zwischen zwei Parties aber tritt dann die Ernüchterung ein wie das Down nach einem Koksrausch. Ich glaube Louise kann davon das ein oder andere Lied singen. Sie hatte sich oft verzettelt, weil sie dachte, „solange ich tanze drehe ich mich schneller als der Erdball“. Dem ist zwar tatsächlich so, aber es bringt leider nichts. 

Traurig sein bedeutet nicht zwangsläufig, in Schwermut zu ertrinken oder gar sich in Selbstmitleid zu suhlen, frei nach dem Motto: Ach, alles ist scheiße und die Welt so ungerecht. In der Traurigkeit changieren die Farben, so als sähe man die Dinge, die einen umstellt haben, durch eine erste Träne, die das Auge flutet und gegen die man sich nicht wehren kann. Die Erinnerung verschwimmt, verblasst wieder, und oft erscheint einem alles nicht mehr so unverrückbar. Janusköpfige Vergangenheit. Das zweite Gesicht zeigt sich erst viel später.

Ich glaube ja, Mona Lisa lächelt, weil sie mit einem Silver Thunderbird den Highway 61 von Memphis runter nach New Orleans fährt. Muddy Waters auf den Ohren und im Herzen das Gefühl, dass man trotz aller Widrigkeiten die Chance hat, am eigenen Schicksal zu schrauben. Man kann den großen Masterplan jederzeit ändern. Man muss es nur wollen!

Mona Lisa steht in Rolling Fork, Mississippi, im Autoradio läuft ein alter Song von Janis Joplin. Little Girl Blue. Eine gewisse Ähnlichkeit mit Janis ist bei genauerem Hinsehen ja auch durchaus vorhanden. Doch Mona Lisa fixt sich sich nicht weg; sie stirbt keinen erbärmlichen Tod in einem runtergekommenen Hotelzimmer. Mona Lisa lächelt einfach nur - und das schon seit Jahrhunderten. 

Sie weiß, sie bleibt für immer jung, auch wenn Gott sie nicht segnet und einige ihrer Wünsche niemals wahr werden. Nach einer Weile steigt sie wieder ein, fährt los, den Arm über die Fahrertür ihres offenen Thunderbirds gelehnt, mit zwei Fingern lässig das Steuer haltend, Richtung Süden, eine Zigarette im Mundwinkel, warmer Wind in wehenden Haaren, die Sonnenbrille rutscht auf ihre Nasenspitze und legt ihre Augen frei. Jetzt kann man es sehen: Sie weint! Aber niemand weiß, warum eigentlich? Und dann drückt sie das Gaspedal bis zum Anschlag durch. 

Ich denke, so oder so ähnlich hatte sich Leonardo da Vinci das vorgestellt, als er sich damals in Florenz seine Gedanken über den Highway Blues machte.

*

Ach ja. Fast vergessen. Am Ende muss noch - wie in jedem Quiz - die universelle Frage nach dem Großen und Ganzen beantwortet werden, und vor allem: Wer, zum Henker, hat sich das alles ausgedacht? Jemand, der über uns steht? Jemand, der sich nicht begreifen lässt? Viele Menschen fragen sich ja nach dem Sinn des Lebens. Gibt es wirklich einen Masterplan für unsere Existenz? Und wenn ja, wer steckt dahinter?  

Was DICH und MICH angeht, so dachte sich die Schwedische Akademie, man müsse unserem Schöpfer nun doch endlich mal den Nobelpreis verleihen. Allerdings verhielt sich unser Schöpfer ähnlich zickig wie sein Pendant aus der Bibel. Beides ziemlich undurchsichtige Gestalten. Und beide irgendwie nur allzu menschlich, was mich daran erinnert, dass Schöpfer eben auch nur Menschen sind, egal ob sie den Highway Blues erfinden oder Adam und Eva. 

Das war es, was ich Dir noch sagen wollte. Ich schreibe dir sowas ja immer, wenn ich unterwegs bin. Weißt DU noch? Schon vor Jahren schrieb ich dir Postkarten. Aus Paris. Lüttich. Dublin. Nebraska. Wir wissen beide, wo die angekommen sind: Nämlich in meinem Briefkasten. Nichts kommt von Ungefähr! 

Vor langer Zeit zeichnetest DU ein Bild von mir, in dem ich mich selbst gar nicht erkannte. Heute weiß ich, das war ich. Das bin ich. Das werde ich gewesen sein. Denn da ist niemand außer mir. 

Gerade läuft Dein Lied im Radio und ich nehme wieder Kontakt auf; DU erzählst immer noch, nach all den vielen Jahren

Von Dir und mir

Von EUCH da draußen

Von der Traurigkeit

Von der Möglichkeit

Alles zu überwinden

 

Von hieraus und so weiter…