Visions of Johanna

 

Versuch einer freien Übersetzung ins Deutsche

 

Visions of Johanna bedeutet wörtlich: Visionen von oder über Johanna

 

Im Zusammenhang des Textes von Bob Dylan kann das Wort „Visions“ vermutlich am besten mit „Vorstellungen“,  „Zukunftsbildern“, wenn nicht sogar „Idealbildern“, sozusagen einer Art Gegenentwurf zu den bestehenden Verhältnissen,  übersetzt werden, so dass sich der Titel in Anlehnung an diese Synonyme am besten mit „Bilder von Johanna“ in Deutsche übertragen lässt. Gemeint sind Bilder im übertragenen, gedanklichen Sinne.

 

Bei der Übersetzung war es mir wichtig, den vieldeutigen und sehr enigmatischen Text zu enträtseln und so zu interpretieren, wie er nach dem Sinngehalt des eigentlich „Gemeinten“, dem was zwischen den Zeilen zu verstehen ist, am nächsten kommt.

 

Den vielen speziellen sprachlichen Anspielungen, die in der Eigenart des „American English“ der Nordstaaten ihren Ursprung haben, den vertrackten Redewendungen, bin ich nicht wörtlich auf den Grund gegangen, sondern habe versucht, den mittlerweile 50 Jahre alten Text in einigermaßen zeitgemäßer Sprache zu interpretieren. Insbesondere die vielen verschachtelten Anspielungen aus der christlichen Symbolik, die Metapher des Regens, die häufig wiederholend auftritt, sind ins Deutsche nicht bzw. kaum übersetzbar.

 

Ich habe mir Übersetzungen von Carl Weissner und Günter Ament angesehen und mich dort angelehnt. Beide Übersetzungen sind mir aber zu wortgetreu und auch zu lyrisch. Den Kern des Textes kann man in deutscher Sprache meiner Meinung nach nur erfassen, wenn man das Versmaß verlässt und die Übertragung der Worte in freie Prosa fasst.

 

Der britische Dichter Sir Andrew Motion hat sich in einem Essay sehr ausführlich zu diesem Text geäußert und das Lied schließlich damit geadelt, in dem er zum besten Songtext der Rockmusik kürte. Darüber kann man sicher geteilter Meinung sein, aber es ist unbestritten einer der komplexesten und wegweisendsten Texte in der modernen Musik.

 

Erstmals zeigte Bob Dylan, dass man die Diskrepanz zwischen Realismus und Idealismus in einem Rocksong poetisch aufarbeiten kann und damit auch philosophische Themen im Rahmen der populären Musik poetisch darstellen kann.

 

Der Text behandelt wortgewaltig ein Thema, das unser alltägliches Leben ständig bestimmt: Die Frage zwischen Schein und Sein,  zwischen Möglichem und Machbarem  und wie uns Ideale und Vorstellungen helfen, eine schlechte reale Situation zu verbessern.

 

Vorsichtig lässt sich eine Kernbotschaft  entschlüsseln: Realismus ist vergänglich und hat keinen Wert an sich, nur Idealismus hat Bestand und die Kraft zur Veränderung.   

 

Es bleibt offen, ob Johanna tatsächlich existiert oder ob es sich bei Johanna nur um ein Hirngespinst des Erzählers handelt. Letzteres ist eher anzunehmen.

 

 

 

Strophe 1

 

 

 

Passiert es nicht meistens in der Nacht, dass einem die Gedanken  Streiche spielen und zwar  immer dann, wenn man gerade zur Ruhe kommen will?

 

Wir sitzen hier beisammen, gescheitert und etwas hilflos, obwohl wir alle unser bestens geben, das zu bestreiten und so tun, als wäre es doch nicht so.

 

Und besonders Louise gibt die Hoffnung nicht auf und versucht,  mit ihren Verführungskünsten Mut zu machen, sich der scheinbar ausweglosen Situation zu widersetzen.

 

Man sieht ein Lichterflimmern aus der noblen Wohnung gegenüber, während hier in unserer herunter gekommenen Bude nur die Heizungsrohre husten

 

Aus dem lokalen Radiosender berieselt uns etwas Musik, aber sonst gibt es wirklich nichts Nennenswertes über uns hier zu berichten

 

Allenfalls noch,  dass Louise und ihr Liebhaber jetzt eng umschlungen in der Ecke liegen und natürlich dass die Bilder und Vorstellungen, die ich von Johanna habe, langsam aber sicher meine Gedanken erobern.

 

  

 

Strophe 2

 

In dem verlassenen Hinterhof unseres Hauses, wo ein paar reifere Damen abhängen und sich mit sinnlosen Banalitäten beschäftigen, was auf mich so absurd wirkt, als würden sie mit der Türkette Blinde-Kuh spielen, und wo auch die jungen Mädels, die nun von einer durchtanzten Nacht heimkommen, regelmäßig über irgendwelche Seitensprünge und Problemchen klatschen und tratschen, worüber sie schon in der U-Bahn die ganze Zeit gefaselt haben, in diesem Hinterhof sehen wir von unserem Fenster aus auch den Nachtwächter, der in unserer Gegend aufpasst. Bis hier oben hören wir das Klicken seiner Taschenlampe, die er an- und ausmacht, während er das alles beobachtet und sich wohl fragt: Bin ich eigentlich bescheuert oder ist dieser Hühnerhaufen von Frauen nicht ganz bei Trost?

 

Louise ist anders als die Frauen da draußen. Sie ist wirklich in Ordnung, irgendwie sogar bezaubernd und manchmal scheint sie für mich wie ein Spiegel zu sein. Aber sie macht mir auch unmissverständlich klar, dass Johanna nunmal nicht hier ist und ich mich mit dem abfinden muss, was ich hier vorfinde.

 

Das Flackern der Lampen beleuchtet ihre Wangenknochen und dadurch wirkt ihr Gesicht ein wenig geisterhaft. Und irgendwie sehe ich in ihrem Gesicht nun auch meine Bilder und Vorstellungen von Johanna.

 

 

 

Strophe 3

 

 

 

Jetzt haben wir hier ja auch noch diesen jungen unterprivilegierten Typen, der sich ständig zu kurz gekommen fühlt, aber trotzdem unheimlich wichtig nimmt. Das ist einer dieser Angeber, die sich auch noch toll vorkommen in ihrem Elend.

 

Und immer wenn Johannas Name fällt, spricht er mir gegenüber hämisch von einem Abschiedskuss und dass Johanna sowieso nichts mit mir zu tun haben möchte. Der Typ ist dermaßen unverschämt und dabei gleichzeitig ein Nichtsnutz, den kein Mensch braucht. Ach, ich lasse ihn stehen und gehe runter in den Flur eine rauchen. Soll er doch von mir aus sein Gelaber den Zimmerwänden erzählen oder gegen die Mauer sprechen.

 

Ich kann das kaum in Worte fassen, was ich fühle. Jedenfalls ist es wirklich nicht leicht, mit solchen Typen auszukommen, sie zu tolerieren und mit allem so weiterzumachen. Schon deshalb lassen mich die Bilder von Johanna nicht los, die mir zeigen, dass auch alles anders sein könnte. Diese Bilder sind der Grund, warum ich nicht mehr schlafen kann – sie kommen mit der Dämmerung und halten mich wach bis zum Morgengrauen.

 

 

 

Strophe 4

 

Und wenn ich erstmal über solche Dinge wie Kunst und Hochkultur nachdenke, beschleicht mich das Gefühl, dass in allen Museen der Ewigkeit der Prozess gemacht werden soll. Die Kunst denkt, sie hat die Wahrheit gepachtet. Überall in den Museen hört man das Echo von Stimmen, die einem sagen, wie man das alles zu deuten hat und natürlich auch wie DIE Erlösung aussieht.

 

Aber wenn ich mir die Mona Lisa so anschaue, dann denke ich, die muss eine Scheiß-Zeit hinter sich haben. Anders kann man dieses Lächeln nicht deuten.

 

Und wenn man sich erst die Bilder von Hieronymus Bosch und ähnlich entrückten Künstlern ansieht: hier ein erfrorenes Mauerblümchen, da ein paar Frauen mit teigigen Gesichtern und auf einem Bild ein Typ mit Schnäuzer, der so einen verzweifelten Blick drauf hat, dass man meint, hören zu können wie er seufzt: „Herr Jesus Christus. Wo sind bloß meine Knie? Ich kann sie hier auf dem Bild nicht finden.“

 

Am Schluss noch ein Bild mit einem Esel, dem ein Fernglas und eine Perlenkette um den Hals gehängt wurde. Das ist alles so durchgeknallt und dagegen lassen meine vollkommenen Vorstellungen und meine schönen Bilder, die ich von Johanna im Kopf habe, alles andere ziemlich grausam und hoffnungslos aussehen.

 

  

 

Strophe 5

 

Jetzt gesellt sich auch noch dieser alte kranke Schnorrer zu uns mit seiner Gräfin, die so tut, als würde sie sich um ihn kümmern. Was für ein abgewracktes Paar! Er sagt zu ihr: „Nenne mir einen Menschen, der kein Parasit ist und gehe raus und spreche ein Gebet für ihn.“

 

Aber wie sagte Louise daraufhin so schön: „So eine Pfeife wie Du hat auch nicht wirklich den Durchblick.“

 

Doch dann macht sie sich für diesen Idioten auch noch hübsch und wird es womöglich noch mit ihm treiben.

 

Langsam gerät das hier alles aus den Fugen. Und die Madonna ist uns auch immer noch nicht erschienen.

 

Dieses Zimmer wirkt langsam wie ein Gefängnis, dessen Gitterstäbe rosten und die Erscheinung der Madonna kann man sich knicken.  Auch eine Heiligenfigur hat schon bessere Zeiten gesehen, als sie noch ein Bühnenstar war.

 

Auch das noch! Jetzt hat sich da unten ein Straßenmusikant auf die Straße verirrt. Der malt ein Graffiti auf einen LKW, einen Fisch-Transporter, und darauf steht:

 

„Alle Schulden sind beglichen!“

 

Kein Wunder, dass mir bei alldem währenddessen der Schädel explodiert und meine Gedanken in 1000 Fetzen fliegen.

 

Ich höre noch eine Mundharmonika, die Geistermelodien spielt und das war’s dann.

 

Nur die Bilder von Johanna werden für immer bleiben, während der Rest den Bach runtergeht.