Damit das alles nicht so ganz in Vergessenheit gerät

 

 

 

Wer ernsthaft behauptet, er könne sich an Einzelheiten oder gar Zusammenhänge seiner Kindheit, die über 40 Jahre und manchmal sogar noch länger zurückliegen, wahrheitsgemäß erinnern, lügt, spinnt, ist entweder traumatisiert oder aber um diese Fähigkeit zu beneiden.

Ich jedenfalls kann das nicht!

 

Meine Erinnerungen an Tante Elvira sind vage, schemenhaft und nebulös. Es geht heute nicht mehr darum, eine Wahrheit zu finden, die den Tatsachen von damals entspricht, die objektiv richtig wäre und vor den Augen aller, die beteiligt waren, Bestand hätte. Es geht auch nicht um eine Aneinanderreihung von Fakten bzw. darum, eine Art Aktenlage zu schaffen, so dass man schlüssig und unzweifelhaft im Falle eines Falles zu einem folgerichtigen Urteil käme. 

 

Vielmehr lag mir daran, das Unerwähnte, das sich irgendwo in der Mitte des Nebels legendärer Geschichten befindet, noch einmal aufzugreifen und aus meiner Sicht zu Ende zu erzählen. 

 

Ursprünglich hatte ich die Idee, einen großen Familienroman zu schreiben. Die Gedanken hierzu entwickelten sich etwa im Lauf des Jahres 1992, kurz bevor meine Mutter unerwartet starb.

 

Erst spät hatte meine Mutter begonnen, über ihre eigene Vergangenheit, die für mich bis dahin im Dunkeln lag, Auskunft zu geben. Die Zeit zwischen 1935 und den ausgehenden 50er Jahren, eigentlich bis hin zu meiner Geburt und der gleichzeitigen Heirat mit meinem Vater 1964 waren ein Buch mit 7 Siegeln, aus dem mir lediglich ausgewählte Anekdoten bekannt waren, die stets ein untadeliges Bild jener Menschen zeichneten, die im Leben meiner Mutter eine wichtige Rolle gespielt hatten.

 

Nach und nach fielen mir erste Widersprüche auf. Angebliche Tatsachen, die meine Mutter schilderte, wollten zeitlich, örtlich oder inhaltlich nicht zu realen Begebenheiten passen, die sich anhand von Dokumenten, Bildern oder zeitgeschichtlichen Geschehnissen nachvollziehen ließen. Darauf angesprochen fiel meine Mutter in gewohntes Schweigen. Meistens aber bog sie den Lauf der Geschichten wieder so, dass er zu ihrem Bild der Wahrheit passte. Dies deckte sich selten mit meinem Bild, das ich mir gemacht hatte. 

In den letzten Monaten ihres Lebens war meine Mutter erstaunlich auskunftsfreudig gewesen und in den vielen Gesprächen, die wir - kurz vor ihrem überraschenden Tod im Januar 1993 - führten, breitete sich für mich eine unglaubliche Story aus Schicksalen, Intrigen, Tragödien und Dramen, gescheiterten und gelungenen Lebensentwürfen aus, so dass ich dachte: DAS darf nicht unerzählt bleiben. Daraus kann man etwas Größeres entwickeln - einen ganz großen Roman.

 

Glücklicherweise habe ich alle Aufzeichnungen von damals behalten und kann heute nachvollziehen, ab welchem Zeitpunkt mein Plan im Sande verlief.

 

Die ersten Konstruktionen fertigte ich in den Jahren 1993/94 an. Die ganze Gemengelage dessen, was ich erzählen wollte, verschachtelte sich zusehends in unzählige Nebenstränge. Es wurde verdammt unübersichtlich in meiner Geschichte.

Ich hatte keine genaue Zielvorstellung, jedoch erschienen mir einzelne Episoden bereits so spannend, dass jede für sich es wert war, erzählt zu werden. 

 

Ein roter Faden, der schließlich alles zusammennähen sollte, würde sich schon finden. Weit gefehlt - wie sich herausstellte.

 

Trotzdem begann ich am 22.12.1995 mit der ersten Niederschrift, getragen von dem Gedanken: Wenn du jetzt nicht anfängst, dann nie mehr!

 

Tatsächlich war mein großes Projekt, bei Licht betrachtet, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ich hätte es seinerzeit wissen können, ja besser wissen müssen. 

 

Es war mir nämlich schlicht etwas dazwischen gekommen, das mich davon abhielt, diesen enormen Zeit- und Arbeitsaufwand zu verfolgen: Meine berufliche Karriere; und nicht zuletzt mein junges Privatleben an der Seite meiner Frau. Beides startete gerade ziemlich rasant durch. 

Nach und nach verschwanden die Kladden und Manuskripte wieder im Schrank und wurden erst 22 Jahre später zu Beginn der Serie „Tante Elviras Bilderschrank“ wieder hervorgekramt.

 

Aus dem Gewusel der Figuren destillierte sich die Geschichte um Tante Elvira heraus und reduzierte sich auf diese eine Hauptdarstellerin, in der ich spiegelbildlich oft meine Frau sah.

Tante Elvira war eigentlich gar nicht meine Tante, sondern die beste Freundin und Vertraute meiner Mutter. Man kann auch sagen: eine Art Gegenpol oder Gegenentwurf zu meiner Mutter, zumindest so, wie ich sie kannte.

 

Elvira war lebensfroh, was das protestantische Auge meiner Mutter auch immer, jedenfalls nach außen hin, etwas kritisch kommentierte: „Hach ja, Elvira!“

Richtig ist: Elvira war außergewöhnlich attraktiv im Vergleich mit den sonstigen Tanten und Bekannten meiner Mutter. Sie war beliebt bei der Männerwelt, nicht zuletzt auch bei meinem Vater, der aber nicht den Hauch einer Chance hatte, bei der besten Freundin seiner Gattin zu landen. Das verbot sich schon aus Loyalität. So sehr er es auch versuchte, so elegant ließ Tante Elvira ihn abblitzen.

 

Gemeinsam mit ihrer Schwester betrieb Elvira ein kleines Zeitungs- und Zigarettengeschäft in Iserlohn. Sie war kinderlos und blieb zeitlebens  unverheiratet, was in den 70ern immer noch etwas exotisch anmutete, gerade weil sie eine so begehrenswerte Frau war. Sie blieb immer selbstständig und somit nicht von einem Mann abhängig, was in dieser Zeit für sich betrachtet schon eine Lebensleistung darstellte. Gerüchte gab es sicher hier und da, aber etwas genaues wußte man nicht; meine Mutter vielleicht, doch die nahm ihr Wissen mit ins Grab. Für mich steht jedenfalls fest, dass Tante Elvira keinesfalls jungfräulich vor ihren Schöpfer getreten ist, wenn dieser sie überhaupt hereingelassen hätte, denn dem neudeutschen Sprichwort zufolge wäre Elvira meiner Meinung nach wohl eher überall hingekommen, nur nicht in den Himmel.

 

Sie rauchte, trank Alkohol, war stets mondän und chic gekleidet, was an die ein oder andere Filmschauspielerin erinnerte - und immerzu lachte sie. Herzerfrischend, ansteckend, mit blitzenden Augen. Erwähnte ich bereits, dass sie der Schwarm aller Männer war?

 

Aber nicht nur die Männer - auch mich bezauberte ihr Charme in meiner frühpubertären Entwicklung und verschaffte mir einen ersten Einblick in die Welt erotischer Phantasien. Wahr ist: Tante Elvira war Gegenstand meiner ersten feuchten Jungenträume. Und daran war sie nicht ganz unschuldig!

 

Und genau an dieser Stelle der Erzählung entsteht aus Tatsachen, Ersponnenem und Gefühltem eine hochexplosive Mischung. Die Erotik ist ein Thema, das mich - nicht nur künstlerisch - nie wieder ganz losließ. Und das Interesse an diesem Gegenstand findet seinen Anfang immer wieder vor Zeiten auf den Kaffeekränzchen meiner Mutter. 

 

Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass damit auch der Grundstein gelegt wurde für meine Präferenz für Damen mit Sonnenbrillen, langen schönen Beinen, Füßen mit lackierten Nägeln in Nylonstrümpfen und hochhackigen Schuhen. Nicht nur, aber doch ganz besonders waren meine Begegnungen mit Tante Elvira dafür prägend.

 

Und somit ist dieses vorliegende fotografische Projekt im Grunde die Fortführung, möglicherweise sogar Vollendung des 25 Jahre alten Vorhabens, so etwas wie einen Familienroman zu schreiben.

 

Langsam reifte die Idee, anstelle einer Erzählung eine Art Sittengemälde zu skizzieren. Skizzieren meint Andeuten, nicht etwa Zeichnen oder Ausmalen.

Anhand von Bildern, Dokumenten und Aufzeichnungen und ausgehend von der Kurzgeschichte „Tante Elviras Beine“, die ich für eine andere Serie, nämlich für das seit 2015 laufende „KAFKAHAUS“, verfasst hatte, entstand ein erotisches Kaleidoskop als eigenständiges Projekt. 

 

Eine Hommage an diese bezaubernde Frau, die Objekt meiner pubertären Begierden und Traumbild meiner ersten autoerotischen Handlungen war. Ich formuliere das mal so vornehm, weil ich das dieser Dame aus Dankbarkeit und Respekt schuldig bin.

 

Die Geschehnisse der Kurzgeschichte „Tante Elviras Beine“ sind jedenfalls - so gut es mir erinnerlich ist - weitgehend authentisch geschildert und tatsächlich so vorgefallen.

 

Wenn meine Eltern die Heimatstadt meiner Mutter besuchten, kam es regelmäßig vor, dass ich Zeit bei Tante Elvira verbrachte, während Besorgungen erledigt oder Besuche absolviert wurden. Tante Elvira passte dann für ein paar Stunden auf mich auf. Ich erinnere mich, dass ich als vielleicht 6- oder 7-jähriger auf ihrem Schoß saß und während sie rauchte, strich ihre freie Hand über meine Haare, meinen Rücken - und es war immer ein so anderes Gefühl als das, was ich von meiner Mutter kannte, wenn sie das Gleiche tat. Später, als 12 oder 13-Jähriger  spielte ich meist allein in ihrem Wohnzimmer. Auch wenn ich nun nicht mehr auf ihrem Schoß saß, ergab sich immer wieder eine körperliche Nähe, die mir höchst angenehm war. Umarmungen, Streicheln, ein Kuss in die Haare, ein Prusten in den Nacken.

 

Was mir von diesen Gefühlen als Bild geblieben ist, ist das Lachen und dieser Blick, wenn sich das Lachen in ein Lächeln verwandelte, wie sie es wohl auch den Männern entgegenbrachte. In dieser Zeit spürte ich erstmals, dass dieses kleine Ding, das meine Mutter „den Pipimann“ nannte, auch ein recht merkwürdiges, aber durchaus angenehmes Eigenleben führte. 

Ich kann es nicht beschwören, aber aus meiner gefühlten Erinnerung heraus kann ich sicher sagen, dass manches Lächeln von Tante Elvira dieser Wahrnehmung galt, wenn sie bemerkte, dass mein kleiner Mann sich aufgerichtet hatte. Das kam zuweilen vor. Im Gegensatz zu meiner Mutter nahm Tante Elvira das amüsiert und ohne verschämtes Abwenden zu Kenntnis - im Gegenteil, sie schenkte mir dieses Lächeln, das sie den Männern schenkte, strubbelte meine Haare oder ihr Finger massierte mit leichtem Druck meine Wirbelsäule und nahm sie mich in ihre Arme, drückte mich mit einer mir unbekannten Zärtlichkeit an sich. Manchmal spürte ich dabei ihren elastischen Busen an meiner Wange und immer roch ich sie. Und dieser Geruch, den ich nicht beschreiben kann, liegt noch heute in meiner Nase. Ich kann ihn nicht beschreiben - oder besser: ich will es nicht.

Es ist der letzte Zauber, das ewige Geheimnis von Tante Elvira und mir. Das bleibt unter uns.

 

Ich bin unendlich dankbar für diese Momente. 

 

In Medien und Gesellschaft beleuchtet man Begegnungen dieser Art heute eher kritisch und wahrscheinlich wird der ein oder andere in dieser Bilderserie eine nostalgische Verklärung von etwas sehen, dass man grundsätzlich  - bitteschön - anklagend zur Diskussion zu stellen hat. Mancher wird sich fragen, ob dadurch meine Entwicklung möglicherweise einen Knacks hätte erhalten können oder gar hat - aber wie neunmalkluge Experten Erlebnisse wie meine beurteilen werde  ich nicht zu meinem Problem machen!

Und manche Berichterstattung im Zuge bestimmter Kampagnen erscheint mir äußerst fragwürdig.

 

Mit weitem Abstand und zur fotografischen Darstellung all dessen bedurfte es einer „Wiedergängerin“:

Eine Person, die ELVIRA in sozusagen als Model, Darstellerin und Figur spiegelt und dabei ein neues Bild dieser Frau entwirft verbunden mit der Frage:

Wie wäre Tante Elvira heute? Oder: Wie sehe ich ihre Rolle von damals in der Jetztzeit gespiegelt an ihrer heutigen Darstellerin?

 

Was also lag näher, als dieses Vorhaben gemeinsam mit meiner eigenen Frau aufzugreifen?

Nicht nur, weil wir sowieso viele fotografische und künstlerische Projekte gemeinsam entwerfen - Nein! Wer hätte Elvira besser darstellen und spiegeln können?

In vielem besteht zwischen den beiden eine für mich frappierende Ähnlichkeit. Und vielleicht habe ich meine feuchten Jugendträume ja irgendwann erfüllt gesehen und auch noch geheiratet. Wer will das schon wissen? 

Auch dieser Teil der Entstehungsgeschichte bleibt selbstverständlich unerzählt. Man mag die Bildcollagen betrachten und für sich sprechen lassen, ganz unabhängig von dem Entschluss, den wir gemeinsam am 19.12.2017 während eines weihnachtlichen Abendessens auf Schloss Basthorst fassten, diese Serie zu beginnen.